Formholz ist ein ganz besonders Holz. So leicht, stabil und formbar, wie es ist, hat es die Gestalterinnen und Gestalter der Moderne zu kühnen Entwürfen beflügelt. Entwürfe, die in ihrer organischen Ästhetik bis heute Gültigkeit haben und mit denen wir uns gern umgeben. Zwar kommt Formholz genauso wie Massivholz ursprünglich aus dem Wald. Doch sobald der Baum gefällt und entrindet ist, trennen sich die Wege. Formholz ist ein durch und durch modernes Material, das Produkt eines industriellen Herstellungsprozesses, bei dem die natürlichen Eigenschaften verändert, ja verbessert werden. Dafür wird der Baumstamm zunächst zu einem Endlos-Furnier „abgeschält“. Dann wird das Furnier zugeschnitten und in mehreren Lagen kreuzweise verleimt. So sind die Zuschnitte in alle Richtungen belastbar. Anschließend werden sie unter Druck und Hitze verpresst und lassen sich dabei zu zweidimensionalen Platten oder komplexen dreidimensionalen Objekten formen. Elegant gekurvte Sessel, rasante Boots- und Flugzeugrümpfe: Formholz verkörpert wie verchromtes Stahlrohr oder Beton den Enthusiasmus der Moderne, den Aufbruch in eine neue Zeit. Dünne Holzschichten miteinander zu verleimen ist allerdings beileibe keine Erfindung der Moderne. Schon die alten Ägypter kannten das Prinzip: Sie verwendeten Furniere und Schichthölzer im Möbel- und Wagenbau. Auch für das antike China und Rom lassen sich ähnliche Objekte nachweisen. Doch erst in der Zeit der industriellen Revolution schufen Erfindungen wie der rotierende Furnierschneider oder die Heißpresse die Voraussetzung, das altbekannte Material weiterzuentwickeln – zum modernen Formholz.
Thonet entdeckte das Formholz im Jahr 1876. Franz Thonet, einer der Söhne von Firmengründer Michael Thonet, reiste damals zur Weltausstellung nach Philadelphia. Unter den Ausstellern: ein amerikanisches Unternehmen, das Stühle mit Sitzen aus Formholz präsentierte. Offensichtlich machten die Möbel Eindruck, denn ein Jahr später stellte Thonet seinen Stuhl Nr. 18 vor, den ersten mit Sitz- und Rückenteilen aus dem neuen Material. Weitere Modelle in dieser innovativen Konstruktionsweise folgten und Formholz etablierte sich als Alternative zum Wiener Geflecht. 1888 tauchte in einem Thonet-Katalog erstmals der Begriff „thermoplastische Holzsitze“ auf. Auch als Gestalterinnen und Gestalter in den 1920er Jahren mit dem gebogenen Stahlrohr das Möbeldesign revolutionierten, wurde das geschichtete und geformte Holz nicht obsolet: Der Stuhl S 43 von Mart Stam etwa wird von Thonet bis heute mit Rücken- und Sitzfläche aus gebogenem Formholz produziert. Aber eigentlich steckt der Werkstoff noch viel tiefer in der DNA von Thonet. Denn noch bevor Michael Thonet Mitte des 19. Jahrhunderts das Biegen von Massivholz perfektionierte, experimentierte er mit verleimtem Holz, das er in Formen presste. So entwickelte er in den 1830er Jahren den kurvigen Bopparder Stuhl aus in Leim gekochten und gebogenen Furnierbündeln. Ein erstaunlich modernes Möbel, bei dem sich Gestaltung, Material und Konstruktion gegenseitig bedingten – der Stuhl wäre in klassischer Tischlermanier aus Massivholz nicht zu bauen gewesen. Doch die innovative Konstruktion hatte auch ihre Tücken: Als Thonet eine Ladung Bopparder Stühle nach Südamerika verschiffen ließ, hielt der Leim dem feucht-warmen Klima nicht stand. Gebogenes Massivholz erwies sich als widerstandsfähiger und schichtverleimte Holzwerkstoffe waren für ein halbes Jahrhundert passé bei Thonet – bis dauerhaftere Leime und optimierte Fertigungsverfahren entwickelt wurden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war Formholz das Material der Stunde und zugleich ein Motor für Innovation. Die Freude am organischen Design bestimmte die Welt der Gestaltung, Möbel brachten Leichtigkeit und Schwung ins Interieur. Gebogene Sitzschalen, abgerundete Kanten – mit Formholz kamen Stühle und Sessel ins Schweben. Thonet legte unter dem Titel „Bent Ply“ sogar eine eigene Formholz-Kollektion auf. Bent Ply ist eine kongeniale Synthese aus den englischen Begriffen „Bent Wood“ für Bugholz und „Ply Wood“ für Schichtholz – beides genuine Thonet-Materialien. Zum Beispiel der Stuhl 661, den Thonet Anfang der fünfziger Jahre vorstellte und der in einer Re-Edition wieder erhältlich ist. Designer Günter Eberle bog ein einziges Formholz-Teil zur Schlaufe, mit einer charakteristischen Öffnung zwischen Rücken und Sitzfläche. Weniger Stuhl geht eigentlich kaum, und dennoch wirkt das „Wannenstuhl“ getaufte Modell weder karg noch banal. Im Gegenteil: Die lebhaft gemaserte Oberfläche und die weichen Rundungen lassen den 661 warm und wohnlich wirken. Und die Geschichte des Formholzes ist für Thonet noch längst nicht auserzählt: Zu den kommenden Neuheiten gehört der Stuhl S 220 – erstmals im Rahmen der Milan Design Week 2022 als exklusive Sneak Preview präsentiert – mit einer fein austarierten Sitzschale aus Formholz. Gemeinsam mit Sam Hecht und Kim Colin vom Designstudio Industrial Facility aus London hat Thonet eine ganze Stuhlfamilie entwickelt, die die vertraute Linienführung eines klassischen Bugholzstuhls auf einen leichten und universell einsatzbaren Schalenstuhl überträgt. Der Entwurf zeigt, dass die besonderen Eigenschaften des Formholzes auch heute noch innovatives, materialeffizientes Design ermöglichen. Es ist eben ein ganz besonderes Holz, das wie kaum ein anderer Werkstoff die Vorteile der Serienfertigung mit der Schönheit eines natürlichen Materials vereint. Und es ist typisch Thonet: Wie Bugholz oder Stahlrohr lebt es von seiner Plastizität. Ein zweidimensionaler Werkstoff wird zu einem dreidimensionalen Objekt geformt, aus Linie und Fläche entsteht Räumlichkeit – bis heute immer wieder ein kleines Designwunder.