Der niederländische Architekt Mart Stam wiederum brachte 1926 mit einem hinterbeinlosen Stuhl aus zehn Gasrohr-Stücken das Prinzip des Kragstuhls auf den Punkt. Während der Planungen für die Weißenhofsiedlung skizzierte Stam 1927 seinen Entwurf dem Leiter der Siedlung, Ludwig Mies van Rohe. Der erkannte das Potenzial und entwickelte Stams noch starres Stuhlkonzept in kürzester Zeit zu einem elegant gekurvten, federnden Modell weiter – dem ersten Freischwinger. Alle drei zeigten ihre Entwürfe dann 1927 in den Musterwohnungen der Weißenhofsiedlung.
Damit war die Idee vom Wohnmöbel aus Stahlrohr in der Welt – und löste eine regelrechte Designexplosion aus. Überall in Mitteleuropa machten sich Gestalter:innen und Architekt:innen sofort daran, ebensolche Möbel zu entwerfen, in Deutschland, in Frankreich, in Italien, in den Niederlanden, in Tschechien. Ob Eileen Gray, Charlotte Perriand, Le Corbusier, Gerrit Rietveld, Hans Luckhardt, Erich Mendelsohn oder Alvar Aalto: Viele prominente Figuren der Zeit bogen, was das Stahlrohr hergab. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Innovation binnen Monaten durchsetzte, ist heute noch faszinierend. Wie rasant es tatsächlich ging, zeigt die Einschätzung von Fachleuten, dass 1928 „alle essenziellen Probleme der Gestaltung bereits […] gelöst waren.“ Nur ein Jahr nach Weißenhof! Die Grundformen für Stahlrohrmöbel waren entwickelt, alle späteren Entwürfe bauten letztlich darauf auf.
Natürlich konnte diese Designexplosion auch der Möbelindustrie nicht entgehen. Schon 1928 schloss Thonet einen Vertrag mit Marcel Breuer. Er hatte den Tipp bekommen, zu Thonet zu gehen, weil man sich mit dem Biegen dort schließlich auskenne. 1929 übernahm das Unternehmen zudem Breuers 1926 gegründete Firma Standard Möbel, 1930 wurde im Werk Frankenberg eine eigene „Stahlabteilung“ eingerichtet. Auf Basis der Bugholz-Technologie hatte man einst die Möbelproduktion industrialisiert. Dieser Prozess ließ sich nun auf das neue Material übertragen, denn es war ebenso dazu geeignet, unterschiedliche Möbeltypologien arbeitsteilig und in großer Serie zu produzieren. Zumal seine Eigenschaften – das Rohr ist leicht, stabil und federnd – es für den Möbelbau prädestinierten. In den 1930er-Jahren stieg Thonet zum größten Stahlrohrmöbel-Hersteller der Welt auf, eine Erfolgsgeschichte, der die NS-Diktatur und der Zweite Weltkrieg ein vorläufiges Ende setzten. Ende der 1960er-Jahre kam Stahlrohr langsam wieder in Mode, und bis heute stellt Thonet einige der wichtigsten Entwürfe der Zeit her, etwa Marcel Breuers Bestseller-Stuhl S 32, seinen Sessel S 35 oder Mies van der Rohes ersten Freischwinger S 533.
Doch warum war die Idee des Stahlrohrmöbels eigentlich so attraktiv? Denn das Material an sich war in den 1920er-Jahren nichts Neues. Bereits 1885 hatten die Brüder Mannesmann ein Patent auf nahtlos gewalzte Stahlrohre erhalten, in den 1890er-Jahren konnten sie im „Mannesmann-Verfahren“ kaltgezogene Rohre im industriellen Maßstab produzieren. Daraus wurden beispielsweise Möbel für Krankenhäuser, Sanatorien oder Labore hergestellt. Auch für Sitze in Autos oder Flugzeugen nutzte man sie. Aber bis zu Breuers Aha-Erlebnis im Jahr 1925 hatte es keine Wohnmöbel aus Metall gegeben. Das Material galt als zu hart und kühl für diesen Zweck. Doch genau das machte das Stahlrohr jetzt so aufregend. Es war neu und anders! Im Gegensatz zu Holz brachte es keine lange Historie mit, die Gestalter:innen waren frei, es in ihrem Sinn zu interpretieren. Sie erkannten in dem anonymen Industriematerial das ideale Symbol für den Aufbruch in eine neue Zeit.
Das glatte, massengefertigte Stahlrohr verkörperte perfekt die damals so gefeierte Maschinenästhetik – obwohl die Möbel anfangs alle aufwändig in Handarbeit hergestellte Einzelstücke waren. Zunächst wurden sie auch noch lackiert – doch schnell setzten sich vernickelte oder verchromte Rohre durch. Die blitzenden, spiegelnden Oberflächen wurden als cool und zeitgemäß wahrgenommen. Das machte die Möbel zum Statussymbol einer gebildeten, solventen Käuferschicht, häufig aus dem Kultur- und Kunstmilieu, die sich damit als Teil der Avantgarde fühlen konnte. Die ursprünglich mit dem neuen Material verbundenen Hoffnungen auf Demokratisierung erfüllten sich allerdings nicht ganz – die guten, alten Bugholzmöbel etwa konnten damals günstiger produziert werden.
Es waren auch und insbesondere die Architekt:innen des Neuen Bauens, die sich für Idee des Stahlrohrmöbels begeisterten. Wer wollte schon eine als neuartig propagierte Architektur mit altbekannten Möbeln einrichten? Es setzte sich eine andere Auffassung von Innenraum-Gestaltung durch: Statt wie bislang einzelne Zimmer komplett auszustatten, konnten sie jetzt aus dem Repertoire der Stahlrohrmodelle flexibel bespielt werden. Die leichten Möbel ließen sich je nach Bedarf und Situation platzieren, sie passten zum modernen Lebensstil. Natürlich waren das Bauhaus-Gebäude und die Meisterhäuser in Dessau mit gebogenem Rohr in allen Formen und Funktionen möbliert – neben den Musterwohnungen der Weißenhof-Siedlung sicher die einflussreichsten Vorbilder dieser Jahre.
Die Stühle, Sessel, Tische und Regale aus Stahlrohr erwiesen sich als ideale Partner einer Architektur, die das Schwere und Abgeschlossene überwinden wollte zugunsten von Leichtigkeit und Transparenz. Die Grundrisse mit ihrem Kontinuum ineinander übergehender Räume schienen nahtlos weiterzufließen in die schwungvollen, offenen Rohrgestelle. Oder wie Marcel Breuer es formulierte: „metallmöbel sind teile eines modernen raumes, denn „die möbel, sogar die wände eines raumes, sind nicht mehr massig, monumental, (...) sie sind vielmehr luftig durchbrochen, sozusagen in den raum gezeichnet; sie hindern weder die bewegung, noch den blick durch den raum.“ Heute gehören die Stahlrohrmöbel längst zu den Klassikern des Designs, auf die sich die meisten wohl einigen können. Dabei sind sie keine verstaubten Museumsstücke – gerade wegen ihrer Luftigkeit und Leichtigkeit passen sie perfekt in die Gegenwart. Ob im Zuhause, im Büro oder in öffentlichen Räumen: Was drei visionäre Gestalter und Architekten vor hundert Jahren entwickelten, ist immer noch zeitgemäß.